Rowdys auf Spassfahrzeugen bedrohen Schweizer Trottoirs
«Ältere Leute trauen sich nicht mehr aus dem Haus»
Rowdys auf Spassfahrzeugen bedrohen Schweizer Trottoirs. Ein Verein will das ändern – mit der Petition «Rettet das Trottoir».
Quelle: Aleksandra Hiltmann @tagesanzeiger.ch vom 17. Januar 2019
TA im Interview mit Herr Schweizer*, soeben haben Sie in Bern die Petition «Rettet das Trottoir» dem Verkehrsdepartement von Simonetta Sommaruga übergeben – auf einem Trottoir?
Wir konnten 4505 Unterschriften übergeben. Für die Übergabe haben wir eine vorbildliche Situation vor dem Bundeshaus West gewählt. Das Trottoir ist genügend breit. Der Veloverkehr wird auf einem breiten Radstreifen geführt.
So vorbildlich geht es aber nicht überall zu und her – deshalb die Petition. Wo liegt das Problem?
Das Trottoir ist den Fussgängern vorbehalten. So steht es im Strassenverkehrsgesetz. Jedoch kann der Bundesrat Ausnahmen bewilligen, zum Beispiel ist es möglich, Velos ausnahmsweise auf dem Trottoir zu führen. Diese Ausnahmen kamen übermässig zum Einsatz. So hat auch das Unrechtsbewusstsein der Velofahrer abgenommen. Je häufiger Velos an bestimmten Stellen auf das Trottoir geleitet werden, desto mehr fühlen sich Velofahrende im Recht, auch an anderen Stellen von der Strasse auf das Trottoir auszuweichen.
Wie sieht es denn mit den E-Trottinetten aus?
E-Trottinette gehören zu jener Kategorie von Fahrzeugen, bei denen keine allgemein verständliche Regelung besteht, wo sie fahren dürfen. Das E-Trottinett ist momentan dem Velo gleichgestellt. Das heisst: Es darf nicht auf dem Trottoir fahren, ausser es gilt eine Ausnahmeregelung. Doch den Nutzern ist das egal. Das war vorauszusehen, doch der Bundesrat hat vor der Einführung der E-Trottinette keinen Handlungsbedarf gesehen und entsprechende Vorstösse abgelehnt.
Sind also E-Trottinette das grösste Übel auf dem Trottoir?
Nein. Das E-Trottinett ist nur in wenigen Städten, wo sie zum Verleih angeboten werden, problematisch. Gesamtschweizerisch sind diese Fahrzeuge also nicht das Hauptproblem. Es geht eher um eine Grundhaltung. Immer mehr Fahrzeuge verkehren auf dem Trottoir. Die Bewilligungspraxis für neue Gefährte wurde bisher sehr liberal erteilt, der Direktor des Astra steht dieser Praxis wohlwollend gegenüber – alles zulasten der Fussgänger.
Deshalb also die Petition?
Der ausschlaggebende Punkt war eine neue Regelung, die zurzeit in der Vernehmlassung ist. Derzufolge sollen Kinder und Jugendliche neu bis 12 mit dem Velo legal auf dem Trottoir fahren dürfen. Wir sind dagegen und haben mit den Unterschriften nun Druck aufgesetzt.
Was ist an dieser Neuerung verkehrt?
Bisher durften Kinder bis zur Schulpflicht mit dem Velo auf dem Trottoir fahren. Mit der Einführung der Grundstufe liegt die Schulpflicht bei 4 Jahren. Der Bundesrat musste deshalb eine neue konkrete Alterslimite festlegen: Er hat sich für 12 Jahre entschieden. «Fussverkehr Schweiz» erachtete eine Alterslimite von 8 Jahren als vertretbar.
8 oder 12, wo ist da der Unterschied?
Mit 8 Jahren ist ein Kind tatsächlich noch ein Kind, von der Statur her, die Fahrweise ist noch unsicherer. Mit 12 jedoch sind Kinder näher bei den Erwachsenen, einerseits von der Statur, aber auch von der Fahrweise her. Sie sind schnell unterwegs. Für Fussgänger kann das gefährlich werden. Und der Anblick sendet eine falsche Botschaft an tatsächlich schon Erwachsene: Wenn ich mich auf der Strasse unsicher fühle, dann weiche ich einfach aus aufs Trottoir.
*Thomas Schweizer ist Geschäftsführer des Fachverbands «Fussverkehr Schweiz». Von Beruf ist er Geograf und Verkehrsplaner.
Die Petition
4505 Personen haben die Petition «Rettet das Trottoir» unterzeichnet. Die Unterschriftensammlung lief bis am 14. Januar 2019. Der Verein «Fussverkehr Schweiz» fordert vom Bundesrat:
- Getrennte Wege für Fussgänger/innen und Velofahrende innerorts
- Keine Velos auf Trottoirs (Ausnahme für Kinder bis 8 Jahre)
- Keine Spass- und Transportfahrzeuge mit Motor auf Gehflächen (Elektro-Trottinettes, Post-Roboter und dergleichen)
- Schaffung von verständlichen und praxistauglichen Regelungen: Wer darf wo fahren?
(Quelle: Fussverkehr Schweiz)
Aber es gibt doch auch gemeinsame Rad- und Fusswege.
Ja, die gibt es. Trottoirs als gemeinsame Rad- und Fusswege zu signalisieren, ist aber illegal, da hier Benutzungspflicht gilt – auch für E-Bikes. Dies zeigt ein Rechtsgutachten, das im Auftrag der Stadt Zürich erstellt wurde. Das Ergebnis: Velos dürfen nur ausnahmsweise aufs Trottoir geleitet werden und nur mit dem Signalisationszusatz «Velos gestattet». Damit besteht keine Benützungspflicht. Die Velos dürfen, müssen aber nicht auf dem Trottoir fahren. Die Stadt Zürich hat das Rechtsgutachten zur Kenntnis genommen und gelobte Besserung.
Aber abgetrennte Radwege auf dem Trottoir sind okay?
Radwege sind keine Trottoirs. Wenn Radwege separat geführt werden und das verbleibende Trottoir breit genug ist – und das ist oft nicht der Fall –, dann sind das brauchbare Lösungen. Auch Pro Velo findet es nicht gut, wenn Velofahrende zwischen Fussgängern Slalom fahren müssen. Velos gehören weg vom Trottoir, auf die Strasse. Die Bevölkerung hat sich bei der Volksabstimmung über die Velowege im September 2018 für gute Veloverbindungen ausgesprochen und nicht für schlechte Mischlösungen.
Aber auf den Strassen ist oft auch nicht genügend Platz für die Velos. Wo sollen sie denn hin?
Ja, die Strassen sind oftmals zu schmal, um Radstreifen markieren zu können. Hier ist Tempo 30 ein zentraler Lösungsansatz. Geschwindigkeitsunterschiede zwischen Auto- und Veloverkehr sind gefährlich. Die Reduktion der Geschwindigkeit erhöht die Sicherheit. Wenn man den Fuss- und den Veloverkehr fördern will, kommt man nicht darum, den Status quo zu hinterfragen und den Strassenraum neu aufzuteilen.
Velos also auf die Strasse. Brauchen Senioren mit Rollator bald einen eigenen Streifen? Was ist mit Personen im Rollstuhl oder auf anderen Fahrzeugen, die sie aufgrund einer Einschränkung benötigen?
Diese Personen dürfen sich selbstverständlich auf dem Trottoir fortbewegen, ohne separaten Streifen. Motorisierte Gehhilfen sollen aber Leuten vorbehalten bleiben, die auf solche angewiesen sind. Der Einsatz von motorisierten Fahrzeugen von Leuten, die einfach zu faul zum Gehen sind oder aus Spass an neuen Entwicklungen gedankenlos Trottoirs benützen, muss unterbunden werden. Das E-Trottinett braucht es nicht.
Ist das nicht eine Bevormundung des Bürgers, was er an Spass haben darf und was nicht?
Wo es für Spassfahrzeuge einen Bedarf gibt, sollen Funparks eingerichtet werden, zum Beispiel gibt es bereits Gokartstrecken, Pumptracks, Skaterparks und so weiter. Funfahrzeuge gehören dorthin und nicht auf das Trottoir. Von älteren Leuten hören wir, dass sie sich nicht mehr aus dem Haus trauen. Sie haben Angst, überfahren zu werden – auf dem Trottoir. Man muss also eine Güterabwägung vornehmen: Lust an einem Spassfahrzeug versus Mobilität und sozialer Teilhabe von älteren Menschen. Der demografische Wandel wird diese Thematik vermehrt ins Bewusstsein rücken.
Wie sieht Ihre ideale Lösung aus? Was muss passieren?
Wir müssen den zunehmenden Ausnahmen auf dem Trottoir einen Riegel schieben. Die Verordnungsrevision, dass Kinder bis 12 auf dem Trottoir Velo fahren dürfen, darf nicht in Kraft gesetzt werden. Generell muss sich der Bundesrat vertieft damit auseinandersetzen, welche Fahrzeuge wo und mit welchen Regeln zugelassen werden. Eine Motion von Nationalrat Thomas Hardegger verlangt: Schnelle E-Bikes sollen der Kategorie der Kleinmotorräder zugewiesen werden. Die Veloinfrastruktur ist einfach nicht gemacht für Velos, die 45 km/h fahren, und die Mischung von schnellen E-Bikes und Fussgängern ist ohnehin unverträglich.
Quelle: Aleksandra Hiltmann @tagesanzeiger.ch vom 17. Januar 2019